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Therapie nach dem ersten epileptischen Anfall zwingend?

Eine randomisierte, kontrollierte Studie.

Titel

Immediate versus deferred antiepileptic drug treatment for early epilepsy and single seizures: a randomised controlled trial.

 

Autoren

Marson A, Jacoby A, Johnson A, Kim L, Gamble C, Chadwick D; Medical Research Council MESS Study Group.

 

Quelle

Lancet. 2005 Jun 11-17;365(9476):2007-13.

 

Abstract

 

 

Fragestellung 

Ist der Beginn einer antiepileptischen Pharmakotherapie schon nach einem ersten unprovozierten epileptischen Anfall bzw. einer «frühen Epilepsie» mit wenigen Anfällen sinnvoll?

 

Hintergrund

Die relativen Vor- und Nachteile eines frühen oder verzögerten Behandlungsbeginns bei Patienten mit einem oder einigen wenigen epileptischen Anfällen sind unklar. Es gibt Befürworter eines Behandlungsbeginns schon nach einem ersten unprovozierten Anfall, während die meisten Fachleute, zumindest bei fehlendem Nachweis von weiteren Risikofaktoren für Anfallsrezidive, eine eher abwartende Position vertreten. Hier wird erstmals eine grosse randomisierte Studie vorgelegt, die diese beiden Strategien sowohl hinsichtlich des kurzfristigen Risikos weiterer Anfälle als auch hinsichtlich der Langzeitprognose und Lebensqualität vergleicht.

 

Methoden

Studiendesign

Randomisierte, nicht verblindete multizentrische Studie mit Vergleich einer nach einem ersten Anfall sofort begonnenen, gegenüber einer verzögert (nach weiteren Anfällen) eingeleiteten antiepileptischen Pharmakotherapie. Follow-up-Untersuchungen nach der Randomisierung, nach 3 und 6 Monaten sowie einem Jahr, danach in jährlichen Abständen oder bei Bedarf. Bei jeder Kontrolle wurden Daten bezüglich der Zahl und Art aufgetretener Anfälle sowie der erfolgten Behandlung und deren Nebenwirkungen erhoben; Todesfälle wurden inklusive ihrer Ursache erfasst. Darüber hinaus wurden Daten zur Lebensqualität erhoben. Die Auswertung erfolgte im Intention-to-treat-Design.

 

Setting

Multizentrische, krankenhausbasierte Studie in Europa (etwa die Hälfte der Patienten wurde in englischen Zentren eingeschlossen, die andere Hälfte vorwiegend in osteuropäischen Ländern).

 

Einschlusskriterien

Kinder (ab dem zweiten Lebensmonat) und Erwachsene mit adäquat dokumentierter Anamnese von einem oder mehreren klinisch eindeutigen unprovozierten epileptischen Anfällen, bei denen sich sowohl die behandelnden Ärzte als auch die Betroffenen bzw. deren Bezugspersonen unsicher waren, ob bereits eine Behandlung begonnen werden sollte oder nicht. Ein EEG war obligat, eine bildgebende Diagnostik fakultativ.

 

Ausschlusskriterien

Lebensalter unter einem Monat, akute symptomatische Anfälle (inkl. Fieberkrämpfe), frühere Behandlung mit Antiepileptika (ausser bei einer kurzfristigen Gabe zur Unterbrechung von Anfallsserien oder -staten bzw. einer Prophylaxe akuter symptomatischer Anfälle), progrediente Erkrankung (Malignom).

 

Intervention

Es erfolgte eine Stratifizierung der Patienten nach Zentrum und Anfallszahl (einzelne oder 2 und mehr Anfälle). Bei einer Randomisierung zu einem sofortigem Behandlungsbeginn wählte der betreuende Arzt das von ihm bevorzugte Antiepileptikum aus und begann so früh als möglich mit der Behandlung. Bei einer Randomisierung zu einem verzögerten Behandlungsbeginn erfolgte diese erst, wenn der betreuende Arzt und Patient – in der Regel wegen rezidivierender Anfälle – der Auffassung waren, dass sie erfolgen sollte. Neben der Auswahl des Antiepileptikums waren auch die Dosierung und die Behandlungsdauer nicht vorgegeben.

 

Primäre Endpunkte

Zeit zwischen Randomisierung und erstem Anfallsrezidiv (unabhängig von der Anfallsform), Zeit zwischen Randomisierung und erstem Grand-mal-Anfall, Zeit zwischen Randomisierung und zweitem oder fünftem Anfallsrezidiv (unabhängig von der Anfallsform), Zeit zwischen Randomisierung und Zweijahresremission sowie der Prozentsatz von mindestens seit 2 Jahren anfallsfreien Patienten innerhalb von 1-3 Jahren als auch innerhalb von 3-5 Jahren nach Randomisierung.

 

Sekundäre Endpunkte

Nebenwirkungen in den beiden Studienarmen. Bei nicht behinderten Patienten ab dem fünften Lebensjahr wurden (allerdings nur in England) Fragebogendaten zur Lebensqualität erhoben, die sowohl den körperlichen als auch psychologischen und sozialen Bereich abdeckten.

 

Beobachtungsdauer

Die Rekrutierung erfolgte zwischen dem 1.1.1993 und 31.12.2000, das letzte Follow-up erfolgte am 30.6.2002; entsprechend betrug die maximale Beobachtungsdauer über 9 Jahre.

 

Resultate

Basis-Daten und Patienten

Von 1’847 zur Studienteilnahme eingeladenen Patienten lehnten 404 (22%) die Teilnahme ab. Die verbliebenen 1’443 Patienten wurden randomisiert den beiden Behandlungsstrategien zugeteilt. Während des Follow-ups kam es zu 54 Todesfällen (31 in der Gruppe mit sofortiger, 23 in der Gruppe mit verzögerter Therapie), davon sechs mit plötzlichem ungeklärtem Tod bei Epilepsie (engl.: sudden unexplained death in epilepsy oder SUDEP; vier in der Gruppe mit sofortiger, zwei in der Gruppe mit verzögerter Therapie). 30% der Patienten wurden innerhalb einer Woche nach ihrem letzten Anfall randomisiert, 55% innerhalb eines Monats und 81% innerhalb von drei Monaten. Carbamazepin und Valproat waren die mit Abstand am häufigsten eingesetzten Antiepileptika (jeweils > 40%), in weitem Abstand gefolgt von Phenytoin und Lamotrigin (jeweils maximal 6%). Die häufigsten initialen Zieldosen betrugen für Carbamazepin 400 mg und für Valproat 900 mg am Tag. Der Unterschied zwischen dem Prozentsatz behandelter Patienten in den beiden Studienarmen nahm mit der Studiendauer (erwartungsgemäss) ab. Fünf Jahre nach der Randomisierung wurden 60% der einer sofortigen Therapie zugeteilten Patienten noch behandelt, während der Prozentsatz nach verzögertem Behandlungsbeginn nur bei 41% lag.

 

Gruppenvergleich der Endpunkte

Ein sofortiger Behandlungsbeginn führt zu einer statistisch signifikanten Verlängerung der Zeit bis zum ersten Anfallsrezidiv (hazard ratio 1.4 [95% CI 1.2 - 1.7]), zweiten Anfallsrezidiv (1.3 [1.1 – 1.6]) sowie erstem Grand-mal-Anfall (1.5 [1.2 – 1.8]). Er vermindert auch die Zeit bis zu einer Zweijahresremission (p = 0.023). Nach einem Follow-up von 5 Jahren erreichten allerdings in beiden Studienarmen gleich viele Patienten eine Remission innerhalb von 3-5 Jahren nach Randomisierung (76% bzw. 77%). Ausserdem gab es keinen Unterschied bezüglich Lebensqualität oder schweren Komplikationen.

 

Diskussion durch die Autoren

Die Autoren interpretieren die Ergebnisse ihrer Studie so, dass diese in Übereinstimmung zu früheren Untersuchungen für Patienten mit einem ersten oder einigen unprovozierten epileptischen Anfällen, ein vermindertes Risiko für frühe (erste) Anfallsrezidive bei sofortigem Behandlungsbeginn bestätigt. Allerdings müssen bei einem frühen Behandlungsbeginn nach einem ersten Anfall 14 Patienten behandelt werden, um bei einem ein Anfallsrezidiv innerhalb von 2 Jahren zu verhindern, nach mehreren Anfällen immerhin noch 5 Patienten (= numbers needed to treat). Bezogen auf die wichtigere Frage einer Langzeitremission einschliesslich Lebensqualität liessen sich keine Vorteile im Vergleich zu einer verzögert eingeleiteten Behandlung erkennen. Eine frühe medikamentöse Intervention scheint ohne Einfluss auf den zugrundeliegenden epileptogenen Prozess zu sein.

 

Zusammenfassender Kommentar

Es handelt sich um eine sehr wichtige und praxisrelevante Studie. Einige Schwächen wie die meist fehlende Bildgebung sind durch die teilnehmenden Länder erklärt und verteilen sich bei einer randomisierten Studie auf beide Arme gleich und beeinflussen das Ergebnis daher wahrscheinlich nicht. Dies gilt nicht unbedingt für den doch teilweise stark verzögerten Behandlungsbeginn (mit 20% jenseits von 3 Monaten!) auch in dem Arm der Soforttherapie. Die Gründe für eine häufigere Therapiebeendigung bei verzögertem Therapiebeginn werden leider nicht genannt, in jedem Fall kann aber festgehalten werden, dass sich dies allenfalls zugunsten eines frühen Behandlungsbeginns ausgewirkt haben kann, der aber dennoch bezogen auf die Langzeitremission und Lebensqualität keine Vorteile zeigte. Das häufigere Auftreten von Todesfälle (incl. SUDEP) nach Frühtherapie ist paradox.

 

Insgesamt sind die Ergebnisse dieser Studie eine Bestätigung für die abwartende therapeutische Haltung der meisten Epileptologen nach einem ersten unprovozierten epileptischen Anfall. Eine Frühbehandlung reduziert zwar zunächst einmal das Rezidivrisiko, geht aber mit vermehrten Nebenwirkungen einher und ist auf lange Sicht nicht erfolgreicher als eine erst nach weiteren Anfällen eingeleitete Therapie. Für eine optimale individuelle Beratung sind allerdings weitere und spezifischere Studien in Abhängigkeit von Lebensalter und Epilepsiesyndrom erforderlich.

 

Dr. med. Günter Krämer, Medizinischer Direktor, Schweizerisches Epilepsie-Zentrum, Zürich

Lancet 2005;365:2007-2013 - A. Marson et al

26.03.2006 - dde

 
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