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Diagnostische Wertigkeit von Procalcitonin

Antibiotikaeinsparung mit Bestimmung von Procalcitonin im Serum.

Titel

Effect of procalcitonin-guided treatment on antibiotic use and outcome in lower respiratory tract infections: cluster-randomised, single-blinded intervention trial.

 

Autoren

Mirjam Christ-Crain, Daiana Jaccard-Stolz, Roland Bingisser, Mikael M Gencay, Peter R Huber, Michael Tamm, Beat Müller.

 

Quelle

Lancet 2004;363:600-607

 

Abstract

 

 

Fragestellung 

Kann durch den Einsatz eines hochsensitiven, quantitativen Tests für Procalcitonin im Serum entschieden werden, welche Patienten mit Verdacht auf eine untere Atemwegsinfektion antibiotisch behandelt werden müssen und welche nicht? Erlaubt dies eine Senkung des Antibiotikaverbrauchs bei dieser Patientengruppe, ohne dass das Behandlungsergebnis beeinträchtigt wird?

 

Hintergrund

Der intensive Einsatz von Antibiotika ist eine der Hauptursachen für die Verbreitung von resistenten Bakterien. Insgesamt werden 75% aller Antibiotika zur Behandlung von akuten Atemwegsinfektionen eingesetzt, obwohl bekannt ist, dass diese meist viral bedingt sind. Das Fehlen eines klaren Entscheidungskriteriums (anamnestisch, klinisch oder Laborparameter) ist ein wesentlicher Grund für diesen übermässigen Antibiotikaeinsatz.

 

Bei schweren bakteriellen Infektionen zirkulieren Vorläufer des Calcitonin, u.a. Procalcitonin im Blut. Die Messung von Procalcitonin ermöglicht in diesen Fällen, die Unterscheidung bakterieller von viralen Infektionen, sowie von unspezifischen Entzündungszuständen. Während die ersten Procalcitonintests wegen ihrer beschränkten Sensitivität (Nachweisgrenze: 0.3-0.5 µg/L) nur bei systemischen Infektionen eingesetzt werden konnten, stehen nun neu sensitivere Tests (Nachweisgrenze: 0.06 µg/L) zur Verfügung, die die Diskriminierung von bakterieller und viraler Ursache auch bei lokalisierten Infektionen erlauben.

 

Methoden

Studiendesign

Prospektive, clusterrandomisierte, kontrollierte, einfachverblindete Studie.

 

Setting

Ambulante und stationäre Patienten der Medizinischen Notfallstation, Universitätsspital Basel.

 

Einschlusskriterien
  • Alle Patienten, die Husten oder Dyspnoe hatten und bei denen die Hauptdiagnose ein Verdacht auf eine untere Atemwegsinfektion war
  • Studiendauer: 16. Dezember 2002 bis 13. April 2003
Ausschlusskriterien
  • Schwere Immunsuppression: HIV mit CD4 < 200 Zell/ml, Neutropenie, Patienten nach Stammzelltransplantation.
  • Zystische Fibrose
  • Aktive Tuberkulose
  • Nosokomiale Pneumonie
Intervention

Die Patienten wurden wochenweise randomisiert in eine Gruppe, die konventionell behandelt wurde und eine zweite Gruppe, deren antibiotische Therapie durch das Resultat der Procalcitoninbestimmung geleitet wurde. Für jeden Patienten in der Procalcitoningruppe musste der behandelnde Arzt deklarieren, ob er beabsichtigte Antibiotika zu geben, bevor er vom Resultat der Procalcitoninbestimmung Kenntnis hatte. Mit der Bekanntgabe des Procalcitoninresultates wurden folgende Empfehlungen verbunden:

  • < 0.1 µg/L: von antibiotischer Therapie abgeraten
  • 0.1-0.25 µg/L: antibiotische Therapie nicht empfohlen
  • 0.25-0.5 µg/L: antibiotische Therapie empfohlen
  • > 0.5 µg/L: antibiotische Therapie dringend empfohlen

Der behandelnde Arzt konnte sich jedoch über diese Empfehlungen hinwegsetzen.

 

Primäre Endpunkte

Antibiotikaverbrauch.

 

Sekundäre Endpunkte
  • Klinisch: Lebensqualität (quality-of-life questionnaire), Temperatur, Länge des Spitalaufenthaltes, Notwendigkeit eines Aufenthaltes auf der Intensivstation, Tod
  • Laborparameter: Leukozyten, Plasma-C-reaktives Protein, Serumprocalcitonin
Beobachtungsdauer

10-14 Tage nach dem Einschluss in die Studie wurde das Behandlungsergebnis in einer Follow-up Visite evaluiert. Bei Patienten mit einer chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) wurde zusätzlich nach 4-6 Monaten die Häufigkeit von Exazerbationen und Notfallkonsultationen telefonisch erfragt.

 

Resultate

Basisdaten und Patienten

243 Patienten mit Verdacht auf eine untere Atemwegsinfektion konnten in die Studie eingeschlossen werden: 119 Patienten wurden in die Gruppe mit konventioneller Behandlung und 124 Patienten in die Procalcitoningruppe eingeschlossen. Die Patientencharakteristika waren bei Einschluss in beiden Gruppen vergleichbar, sowohl insgesamt, wie auch in einem separaten Vergleich für die COPD-Patienten. Vier Patienten in jeder Gruppe verstarben, zudem gingen 5 Patienten in der konventionellen Gruppe und 8 Patienten in der Procalcitoningruppe für das Follow-up verloren, so dass 110 bzw. 112 Patienten evaluiert werden konnten.

 

Gruppenvergleich der Endpunkte

In beiden Gruppen war der Anteil der Patienten, die die Ärzte mit Antibiotika zu behandeln beabsichtigten, gleich hoch. Die mit dem Procalcitoninresultat verbundene Empfehlung führte jedoch in der Procalcitoningruppe zu einer 47%-igen Reduktion des Anteils der Patienten, die tatsächlich mit Antibiotika behandelt wurden (p < 0.0001). Unter den COPD-Patienten betrug diese Differenz 56%. Die mittleren Kosten für Antibiotika waren in der Procalcitoningruppe um 52% verringert.

 

Das Behandlungsergebnis war in beiden Gruppen hinsichtlich der klinischen und paraklinischen Endpunkte gleich. Vier Patienten in jeder Gruppe verstarben, jedoch in keinem Fall war eine nicht gegebene antibiotische Therapie die Todesursache. In der Subgruppe der COPD-Patienten war auch das Langzeitergebnis in beiden Behandlungsgruppen vergleichbar.

 

Diskussion durch die Autoren

Die Studie zeigt, dass der Antibiotikaverbrauch bei Patienten mit Verdacht auf eine untere Atemwegsinfektion durch die Bestimmung des Procalcitonins im Serum auf die Hälfte gesenkt werden kann. Auch in der Subgruppe der COPD-Patienten konnte mit Hilfe des Procalcitonins der Antibiotikaeinsatz reduziert werden. Allerdings war dies auch diejenige Gruppe, in der die Studienempfehlung, keine Antibiotika zu geben, am häufigsten nicht befolgt wurde. In der Diskussion wird darauf hingewiesen, dass tatsächlich bei der Exazerbation einer bereits weit fortgeschrittenen Lungenerkrankung eine lokalisierte, aber relevante Infektion mit dem Schwellenwert von 0.1 µg/l verpasst werden könnte.

 

Der Arzt wusste jeweils, in welchen Behandlungsarm der einzelne Patient eingeteilt wurde. Dies hat jedoch die klinische Entscheidung nicht beeinflusst, denn vor Kenntnis des Procalcitoninresultates beabsichtigten die behandelnden Ärzte in beiden Behandlungsgruppen gleich häufig Antibiotika einzusetzen.

 

Die Bestimmung des Procalcitonins ersetzt weder eine gute Anamnese, noch eine sorgfältige klinische Untersuchung. Sie gibt aber eine wichtige zusätzliche Information, die es dem Arzt oft erlaubt, bei einem Patienten mit einer unteren Atemwegsinfektion auf eine antibiotische Therapie zu verzichten.

 

Zusammenfassender Kommentar

Der aktuell übermässige Verbrauch von Antibiotika ist die hauptsächliche Ursache für die zunehmende Resistenzentwicklung. Die meisten Antibiotika werden zur Behandlung von unteren Atemwegsinfektionen eingesetzt, obwohl diese meist nicht bakteriell bedingt sind. Das Hauptproblem liegt hier in der Schwierigkeit, bakterielle und nicht-bakterielle Ursachen zu differenzieren. Zu dieser zentralen Frage leistet die Studie einen wichtigen Beitrag. Es ist zu hoffen, dass diese Studie bald durch weitere Arbeiten bestätigt werden kann. Es könnte sich hier ein Tor öffnen zu einer neuen, besseren und auch billigeren Behandlungsstrategie für Patienten mit Verdacht auf eine untere Atemwegsinfektion. Damit diese sich durchsetzen kann, muss der Procalcitonintest nicht nur mit der Logistik eines Universitätsspitals, sondern auch einfach und zuverlässig in der Arztpraxis durchgeführt werden können. Dazu äussert sich die Studie nicht.

 

 

Dr. med. et dipl. chem. ETH Gerhard Eich, Leiter Spitalhygiene, Kantonsspital St.Gallen.

Lancet 2004;363:600-607 - M. Christ-Crain et al

02.08.2004 - dde

 
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