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Editorial

Viele wird überraschen, dass zu den acht am meisten belastenden Krankheiten weltweit fünf psychische Leiden gehören und die unipolare Depression an erster Stelle steht.

 

Depressive Erkrankungen sind also offensichtlich sehr weit verbreitet. Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 12-17%. Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer. Für die Betroffenen bedeutet die Depression subjektives Leiden, Stress, reduzierte Lebensqualität und erhöhte Sterblichkeit, die durch kardiovaskuläre Krankheiten, Unfälle und Suizide zu Stande kommt. Umgekehrt stellen auch körperliche Leiden ein erhebliches Risiko dar, an einer Depression zu erkranken. So haben z.B. Patienten mit Morbus Parkinson, Schlaganfall oder Myokardinfarkt ein erhöhtes Risiko, eine Depression zu entwickeln. Ein besonderes Augenmerk ist bei der Depression auf das Suizidrisiko zu legen. 15% der Patienten mit schweren depressiven Störungen sterben durch Suizid. Die Suizidrate ist gegenüber der Allgemeinbevölkerung um Faktor 30 erhöht. In der Schweiz ist die Zahl der Suizide mehr als doppelt so hoch wie diejenige der Verkehrstoten.

 

Häufig werden Depressionen nicht oder zu spät erkannt. Ihre Behandlung ist oft inkonsequent und zu kurz. Aus Angst vor Stigmatisierung haben viele Menschen Mühe, eine Fachperson aufzusuchen. Ein Antidepressivum erscheint vielen aus Unkenntnis und Vorurteilen unannehmbar.

 

Bei rechtzeitiger Diagnosestellung und adäquater Therapie ist die Prognose günstig. Wird die Behandlung verzögert, so fördert dies die Entstehung von Therapieresistenz, die bei bis zu 50% der Depressiven auftritt. Dabei dürfte ein grosser Teil aber auf das Konto der Pseudotherapieresistenz gehen, womit eine ausbleibende Besserung durch unsachgemässe Behandlung gemeint ist. Die Behandlung von therapieresistenten Depressionen ist dem Spezialisten vorbehalten und beinhaltet eine breite Palette von Strategien, wobei auch der Elektrokrampftherapie wieder vermehrt Bedeutung zukommt.

 

Eine weitere Gruppe psychischer Erkrankungen, die in ihrer Bedeutung gerne unterschätzt wird, sind die Angststörungen. So leiden 15-20% der Bevölkerung in ihrem Leben unter einer Angsterkrankung. Es gibt Schätzungen, dass ca. 10-30% aller Patienten, die den Hausarzt aufsuchen, eine Angsterkrankung haben. Weniger als 50% der Fälle werden diagnostiziert und nur ein kleiner Teil behandelt. Einseitige Fixierung auf körperliche und vegetative Symptome führen nicht selten zu sinnlos wiederholten körperlichen Abklärungen und hohen Kosten. Leider wird die Diagnose einer Angsterkrankung oft auch dann nicht gestellt, wenn eine ihrer häufigsten Komplikationen wie Depression oder Alkoholmissbrauch auftritt.

 

Da 50% aller Angstkranker gleichzeitig eine zweite Angsterkrankung haben und Depression und/oder Suchterkrankungen eine häufige Komplikation darstellen, sind Angsterkrankungen oft nur schwer zu erkennen und schwierig zu differenzieren. Unbehandelt führen sie fast immer zu Depressionen. So haben 97% aller Patienten mit einer Panikstörung nach 1 1/2 Jahren eine Depression, bei der Generalisierten Angststörung sind es im selben Zeitraum 95%. Sowohl Angsterkrankungen als auch Depression gehen sehr häufig mit Schlafstörungen einher.

 

Von den Angsterkrankungen hat in den vergangenen Jahren die posttraumatische Belastungsstörung zunehmende Aufmerksamkeit erfahren. Am wenigsten beachtet ist bis heute die Generalisierte Angststörung, die aufgrund ihrer oft unspektakulären Symptomatik, ihrer vielen körperlichen Symptome und ihrer Neigung zur Chronizität oft nicht erkannt wird. Die in diesem Heft vorgestellte Schweizerische Gesellschaft für Generalisierte Angststörungen versucht, Wissen über die Erkrankung und deren Behandlung zu vermitteln.

 

Da das Vorliegen einer Restsymptomatik von Depression wie auch von Angststörungen der wichtigste Prädiktor eines Rückfalls ist, muss, wenn immer möglich, die Remission, also Symptomfreiheit, als Behandlungsziel angestrebt werden. Die Behandlung von Angsterkrankungen und Depressionen ist oft eine Kombination von Psychotherapie (meist kognitive Verhaltenstherapie oder interpersonelle Therapie) und Psychopharmaka.

 

Wie eine in diesem Heft vorgestellte Studie zeigt, können bei leichteren bis mittelschweren Depressionen sowohl Psychotherapie als auch antidepressive Medikation Behandlung erster Wahl sein. Bei schweren Formen von Angsterkrankungen und Depressionen ist meist eine Kombination beider Verfahren unumgänglich. Das gleiche gilt für die Gruppe der Angststörungen.

 

Die Pharmakotherapie der Angst und Depression hat in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Die SSRI und neueren Antidepressiva haben sich in den letzten Jahren aufgrund ihrer Wirksamkeit und des günstigeren Nebenwirkungsprofils als Substanzen der ersten Wahl etabliert. Differenzielle Indikationen gibt es für die SSRI bei Zwangsstörungen und für Moclobemid bei der sozialen Phobie. Bei zusätzlichen Schlafstörungen kommen sedierende Antidepressiva wie Mirtazapin oder Nefazodon in Frage. Auch das sehr beliebte und häufig eingesetzte Johanniskraut ist bei leichter bis mittelschwerer Depression wirksam. Benzodiazepine können den Beginn der Behandlung erleichtern. Sie sollten aber möglichst nicht längere Zeit verabreicht werden.

 

Werden die Störungen weder erkannt noch behandelt, hat dies weit reichende Konsequenzen. Mit zunehmender Erkrankungsdauer verschlechtert sich die medizinische und soziale Prognose. Ein hoher Prozentsatz aller Depressiven erreicht nie mehr die Leistungsfähigkeit, die sie vor der Depression hatten. Es kann zu Chronifizierung und Invalidität kommen. Die direkten und indirekten Kosten von Depressionen und Angststörungen sind immens.

 

Die hohe Komorbidität von Depression und Angststörungen hat in den letzten Jahren zu einer neuen, dimensionalen Sichtweise geführt. Da Depression und Angststörungen nur zu je 25% in reiner Form vorkommen und sich in 50% der Fälle überlappen, werden sie heute als Spektrumserkrankungen betrachtet. Diese Sichtweise wird von Fachleuten akzeptiert, da sie die Realität bezüglich Symptomatik, Verlauf und Behandlungskonzepte am besten abbildet. Eine besondere Herausforderung stellen die leichteren respektive subsyndromalen Störungsbilder dar, die wahrscheinlich bezüglich ihrer Bedeutung unterschätzt werden.

 

In den letzten 20 Jahren wurden grosse Fortschritte in der Diagnostik, Therapie und Pathophysiologie der Depressionen und der Angsterkrankungen gemacht. Die zunehmende Anwendung störungsadaptierter, psychotherapeutischer Verfahren und die Einführung neuerer Psychopharmaka haben bewirkt, dass diese Erkrankungen besser und häufiger behandelt werden. Hoffnungsvolle Substanzen gegen Depression und Angst, z.T. auf der Basis neuer Wirkprinzipien, sind in der Erprobung und werden in naher Zukunft die Behandlungsmöglichkeiten erweitern und die Prognose verbessern helfen. In Zukunft ist zu erwarten, dass die umfangreichen und vielversprechenden Ergebnisse aus der Pharmakogenetik und aus der Stressforschung für die Behandlung grossen Nutzen haben werden.

 

Wir müssen alles daran setzen, dass diese Erkrankungen möglichst frühzeitig erkannt und einer differenzierten Behandlung zugeführt werden. Damit Hemmschwellen abgebaut werden können, sind wir Fachleute aufgefordert, vermehrt zur Aufklärung und Entstigmatisierung psychischer Krankheiten beizutragen. Die Verbreitung von praxisrelevanten Studienresultaten auf der Basis der Evidence based medicine, wie in diesem Heft Medizin Spektrum exemplarisch dargestellt, ist ein wichtiger Mosaikstein in diese Richtung.

 

 

Dr. med. Josef Hättenschwiler, Oberarzt Psych. Uni-Klinik Burghölzli, Zürich



 
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