Einleitung
Atemwegsinfektionen und Grippe – nach wie vor aktuell!
Weniger als 60 Jahre ist es her, dass das Penicillin seinen Eingang in die Klinik feierte. Doch heute können wir uns den medizinischen Alltag ohne Antibiotika nicht mehr vorstellen. Penicillin leitete eine Revolution ein: Im Krieg wurden Wundinfekte geheilt statt Beine und Arme amputiert. Kleinkinder mit eitriger Meningitis hatten plötzlich nicht nur eine reelle Überlebenschance, auch die Aussicht auf eine Restitution ad integrum wurde besser. Der klassische Ablauf der Pneumoniestadien bis zur Lyse geriet in Vergessenheit.
Leider vergessen wir auch oft, dass zahlreiche Infektionskrankheiten auch in der präantibiotischen Ära bestens ausheilten. Antibiotika werden heute ohne Zweifel viel zu häufig eingesetzt. Laut amerikanischen Statistiken werden ca. 60% der verkauften Antibiotika für Infektionen der oberen Atemwege eingesetzt. Gerade bei den Infektionen der oberen Atemwege ist der Antibiotika-Einsatz oft nicht zwingend. Der breite Einsatz für fragliche Indikationen hat seinen Preis. Kurzfristig betrachtet ist dies der Preis der nicht ganz billigen Medikamente. Viel schwerer wiegt aber der langfristige Nachteil bezüglich der Resistenzbildung gegen diese Substanzen. In den letzten zwei Jahren haben wir in der Schweiz zum ersten Mal Penicillin-resistente Pneumokokken in grösserer Zahl festgestellt. Eine Resistenzproblematik, von der wir lange hofften, verschont zu bleiben. In der Rubrik Internet Stop in dieser Ausgabe finden Sie eine Internet Adresse mit weiterführenden Informationen zur Resistenzentwicklung.
Die weltweite Resistenzproblematik wird uns nicht verschonen. Neben flankierenden Massnahmen in Landwirtschaft und Veterinärwesen bleibt uns in der Humanmedizin als einzige Waffe der gezielte und auf klare Indikationen beschränkte Antibiotika-Einsatz. Gerade die Therapie von Infektionen der oberen Atemwege ist oft kontrovers. Zur besseren Definition des optimalen Antibiotika-Einsatzes sind nicht nur sorgfältig durchgeführte Studien notwendig. Diese Information muss auch kommuniziert und in der Praxis umgesetzt werden. Das vorliegende Heft Medizin Spektrum ist ein Schritt in die richtige Richtung. In diesem Heft werden wichtige Arbeiten vorgestellt, die zur Zurückhaltung im Antibiotika-Einsatz bei Otitis media und bei der gewöhnlichen Erkältung mahnen. Der Einsatz von Antibiotika bei Exazerbationen einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung war immer umstritten. Es zeigt sich aber immer deutlicher, dass bei eindeutigen bakteriellen Exazerbationen eine kurzfristige antibiotische Therapie den Verlauf der Grunderkrankung günstig beeinflusst.
Ein weiterer Schwerpunkt der vorliegenden Nummer betrifft die «Grippe» oder besser Influenza. Die jährlich wiederkehrende Infektion erfasst im Durchschnitt 10-15% der Bevölkerung und ist damit von grosser ökonomischer Bedeutung. Die Influenza fordert nicht nur Arbeitsausfälle in der Wirtschaft (etwa 10% der gesamten Arbeitsausfälle sind durch Influenza bedingt), sie belastet auch das Gesundheitswesen. Während einer heftigen Grippesaison erfolgen 30-50% der Arztkonsultationen wegen Influenza. Doch auch Notfalleintritte nehmen zu, insbesondere bei Patienten über 65 Jahre. Allerdings sind auch Personen mit chronischen Lungenerkrankungen speziell gefährdet. 20% aller durch Influenza bedingten Todesfälle betreffen Menschen unter 65 Jahren.
Die wirksamste Methode zur Kontrolle der Influenza und der damit verbundenen Probleme ist die regelmässige Influenza-Impfung. In den letzten zwei Jahren ist – unterstützt durch die ausgezeichnete Informationskampagne des Bundesamtes für Gesundheit – die Impfrate insbesondere bei den Risikopersonen signifikant angestiegen.
Die Influenza-Imfpung ist nicht nur eine äusserst nebenwirkungsarme, sondern vergleichsweise auch eine effiziente Impfung zum Schutz vor dieser gelegentlich schweren Erkrankung. Bei der hier vorgestellten Meta-Analyse aus Vaccine 2002 überrascht, wie wenig systematische Studien zu dieser wichtigen Fragestellung vorhanden sind. Die Impfung nützt nur bei guter Übereinstimmung zwischen Impfstamm und zirkulierendem Virus. Für die seltenen Jahre, in denen eine Grippeepidemie mit einem anderen Virusstamm auftritt, bieten die hier vorgestellten prophylaktischen medikamentösen Behandlungen eine sinnvolle Alternative. Allerdings bleibt offen, wie viele Personen über 6-8 Wochen eine prophylaktische Behandlung mit einem Virostatikum einnehmen würden.
Eine grosse Herausforderung wartet in allen Spitälern und Pflegeeinrichtungen auf uns. Hier fehlt es noch am Selbstverständnis für die Impfung. Dies, obwohl wir alle eine ethische Verantwortung gegenüber den oft krankheitsanfälligen Patienten tragen. Paradoxerweise finden sich die höchsten Impfraten im Spital beim ärztlichen und beim Verwaltungspersonal, während sich in den meisten Institutionen nur gerade gut 10% des Pflegepersonals impfen lassen.
Jede Influenza-Saison steigert erneut – trotz fraglicher Indikation – den Antibiotika-Verbrauch. Dies schliesst wieder den Kreis zum Thema Resistenzproblematik. Mit unserem verantwortungsbewussten Handeln unter Miteinbezug individueller sowie öffentlicher Aspekte können wir mithelfen, dass es nie dazu kommt, dass wir kein geeignetes Antibiotikum mehr zur Verfügung haben, wie zu Zeiten Alexander Flemmings.
PD Dr. med. Pietro L. Vernazza, Kantonsspital, St. Gallen
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