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Psychiatrische Diagnostik: ICD-10 oder Intuition?

Das Problem

«Noch jeden Tag kann es sich ereignen, dass sich den Anhängern verschiedener diagnostischer Systeme angesichts des konkreten Falles ähnliche Schwierigkeiten der gegenseitigen Verständigung darbieten, wie einstmals den Erbauern des Babylonischen Turmes.»

 

So beschrieb der Münchner Psychiater Emil Kraepelin vor mehr als 120 Jahren die mangelnde Vergleichbarkeit verschiedener Konzepte. Dies hat prinzipielle Gründe: Wegen des Spannungsfeldes zwischen subjektiven und objektiven Zugangsweisen hat die psychiatrische Diagnostik mit grösseren methodischen Problemen zu kämpfen und ist mehr von theoretischen Vorannahmen abhängig, als dies in anderen Bereichen der Medizin der Fall ist.

 

Die heute gebräuchliche operationale psychiatrische Diagnostik in Gestalt der beiden konkurrierenden Systeme ICD-10 und DSM-IV hat hier ihren Ursprung. Sie erhebt den Anspruch, trotz der heterogenen psychiatrischen Theorienlandschaft eine zuverlässige gemeinsame diagnostische Begrifflichkeit für Praxis wie Forschung zur Verfügung zu stellen. Welches sind ihre Merkmale und welche Vorteile und Grenzen kennzeichnen sie?

 

Hauptmerkmale der operationalen Diagnostik

Ein- und Ausschlusskriterien sowie Kriterienverbindungen für jede Diagnose

Hier liegt der methodische Kern der Operationalisierung. Dieser Weg führt bis hin zu diagnostischen «Entscheidungsbäumen», die bei aller Transparenz auch Zwänge generieren: Sind nämlich die Kriterien erfüllt, so steht die Diagnose fest und muss gestellt werden. Die Frage des Klinikers, ob aufgrund von nicht operationalisierten Sachverhalten auch andere Diagnosen zu erwägen sind, wird klar verneint.

 

Prinzip der Komorbidität

Es werden alle Diagnosen gestellt, deren Kriterien erfüllt sind. Dadurch verringert sich das Risiko, bei einer gravierenden Diagnose zusätzliche, weniger dramatische Störungen, die aber sehr wohl behandlungsbedürftig sind, zu übersehen.

 

Multiaxialität (bislang nur im DSM-IV)

Jeder Patient wird auf fünf Achsen beurteilt: Klinisches Bild, Persönlichkeit, körperliche Erkrankungen, psychosoziale Integration und reaktive Belastungsfaktoren. Dies soll eine realistischere Abbildung der Situation sicherstellen, als es bei der Beschränkung auf das klinisch im Vordergrund Stehende möglich wäre.

 

Orientierung am Schweregrad

Quantitative Merkmale (etwa «leicht, mittel, schwer depressiv») geniessen den Vorrang vor qualitativen (etwa «Typus melancholicus»). Dies hat zur Folge, dass von althergebrachten, quantitativ schwer fassbaren Unterscheidungen wie «neurotisch vs. psychotisch» oder «endogen vs. reaktiv» ausdrücklich Abstand genommen wird.

 

Unabhängigkeit von ätiologischen Vorannahmen

Dieses Merkmal, oft irreführend als «Theoriefreiheit» bezeichnet, soll garantieren, dass verschiedene Anwender der operationalen Diagnostik auch dann zum selben Ergebnis gelangen, wenn sie in ihren Vorannahmen zur Entstehung der betreffenden Störung divergieren - die operationale Diagnose als gleichsam grösster gemeinsamer Nenner.

 

Vorteile

  • Höhere Reliabilität: Verschiedene Untersucher – vorausgesetzt, sie sind mit dem Untersuchungsinstrument hinreichend vertraut – gelangen signifikant häufiger zum gleichen diagnostischen Ergebnis als ohne operationale Kriterien
  • Übersichtlichkeit und Praktikabilität für Aus- und Weiterbildungszwecke
  • Keine implizite Bevorzugung einer bestimmten ätiologischen Theorie
  • Dokumentations- und datenverarbeitungsfreundliches Format
  • Die Kriterienlisten zwingen zur vollständigen Befunderhebung und verhindern voreilige diagnostische Schlüsse
  • In der forensischen Psychiatrie höhere Transparenz des diagnostischen Entscheidungsprozesses vor Gericht. Bessere Vergleichbarkeit und wissenschaftliche Auswertbarkeit psychiatrischer Gutachten

Grenzen

  • Werden operational definierte diagnostische Einheiten als natürlich vorgegebene, unveränderbare Krankheitseinheiten (miss-)verstanden, so liegt eine unbegründete «Reifizierung» oder «Ontologisierung» vor. Ihr tatsächlicher Konstrukt- bzw. Konventionscharakter wird übersehen.
  • Die Erweiterung des Kataloges seelischer Störungen – das DSM-IV listet fast 400 Diagnosen auf – liess die Befürchtung einer «Psychiatrisierung des Alltags» aufkommen: Auch alltägliche leichte Stimmungsschwankungen würden so mit einer psychiatrischen Diagnose behaftet.
  • Risiko der Entwicklung eines dogmatischen Anspruchs auf Superiorität gegenüber allen nicht operationalen und damit vermeintlich unwissenschaftlichen Arten des Diagnostizierens. Damit einhergehend: Risiko der unkritischen Ausweitung des Zuständigkeitsbereiches bis hin zur Identifikation kriteriologischer Diagnostik mit Psychopathologie schlechthin: Operationale Diagnosen bilden aber nur einen Ausschnitt des psychopathologischen Befundes ab, der, etwa bei akuten Psychosen, sehr gross sein kann, in anderen Fällen aber auch deutlich kleiner – man denke an Persönlichkeitsstörungen oder unspezifische Prodromalstadien seelischer Störungen.
  • Unterschätzen qualitativer Phänomene, etwa durch die identische Bezeichnung einer depressiven Reaktion nach Partnerverlust und einer phasenhaften stuporösen («endogenen») Depression als «schwere depressive Episode» in der ICD 10. Anders formuliert: Komplexe psychopathologische Phänomene wie Ich-Störungen, spezifische Anmutungsqualitäten und akzentuierte Persönlichkeitszüge werden oft ungenügend erfasst. Schlimmstenfalls wird sogar ein «operationalisiertes Menschenbild» vermittelt, für das – analog der Assoziationspsychologie des frühen 19. Jahrhunderts – das Mentale nichts anderes ist als die blosse Summation von messbaren Einzelphänomenen.
  • In der forensischen Situation kann die Feststellung einer formalisierten operationalen Diagnose zu dem Fehlschluss führen, hier müsse allein durch die Diagnose eine verminderte oder aufgehobene strafrechtliche Verantwortlichkeit vorliegen. Umgekehrt kann im Einzelfall ein Proband selbst dann seelisch gestört und in seiner Verantwortlichkeit vermindert sein, wenn er nicht die Kriterien einer bestimmten operationalen Diagnose erfüllt. Irreführend kann hier vor allem das verkürzte Verständnis operationaler Diagnostik als quasi «fotographische Abbildung» von objektiv beobachtbaren Symptomen sein.

 

Ausblick: Straffe Kriterienorientierung oder Intuition?

Niemand hat das grundsätzliche Probleme jeder psychiatrischen Diagnostik treffender charakterisiert als der Heidelberger Psychiater Kurt Schneider, der mit seinem schon fast puristischen Bemühen um trennscharfe und praktikable Begriffe selbst ein Vorläufer der heutigen Diagnostik war:


«Es ist Aufgabe der Psychopathologie, weiter zu versuchen, die zahlreichen vagen Fachausdrücke zu differenzieren und so festzulegen, dass sie eindeutiger und im Gebrauch der Willkür mehr als bisher entzogen werden. Der Untersucher aber soll die Beschreibung dessen, was er sieht, gerade nicht voreilig in übernommene Schablonen pressen, sondern den ganzen Reichtum der lebendigen Sprache benützen, um anschaulich zu schildern. Das Auffangen in die Begriffe der Symptomatik, das Messen an möglichst eindeutig festgelegten Fachausdrücken ist für ihn etwas Sekundäres. Es muss zwanglos geschehen und unetikettiert stehenlassen, was nicht aufgeht. Gerade durch das vorschnelle Belegen des Gesehenen mit Fachausdrücken entstehen die meisten falschen Diagnosen.» (Schneider 1980, S. 145)


Dies ist nun kein Angriff auf die operationale Diagnostik, sondern im Gegenteil der Appell, sie als das anzusehen, was sie ist: ein unverzichtbares Hilfsmittel, das ohne Einbettung in eine differenzierte Psychopathologie zur blossen Technik zu verkümmern droht.

 

Allgemein formuliert: Diagnostische Systeme sind nie Selbstzweck. Sie sollen die zuverlässige Zuordnung des Einzelfalles in das wissenschaftliche Koordinatensystem ermöglichen, um die optimale Behandlung einzuleiten. Diesem Ziel dienen in der psychiatrischen Diagnostik der psychopathologische Befund selbst sowie alle weiteren objektiv feststellbaren und vom Patienten oder von Dritten subjektiv geschilderten Sachverhalte. Innerhalb dieses Vorganges spielen auch Erfahrung und Intuition eine grosse Rolle, können aber ihren Charakter als zuverlässige Wegweiser verlieren, wenn sie in den unwissenschaftlichen Bereich subjektiver Eindrucksdiagnosen abgleiten. Es bleibt die Aufgabe der psychiatrischen Diagnostik, Mass zu halten zwischen objektiv-quantitativer «Technik» einerseits und subjektiv-qualitativer «Intuition» andererseits.

 

 

Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff, Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich

 



 
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