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Polyneuropathie - Was tun?

Einführung

Mit der Abklärung von Polyneuropathien (PNP) ist der Neurologe praktisch täglich konfrontiert. Die folgende Zusammenstellung soll aber vor allem den Hausarzt unterstützen, das Krankheitsbild zu erkennen, es nach den wichtigsten Kriterien einzuteilen bzw. die Abklärung danach auszurichten.

Sie ist ergänzt durch die Darstellung fachärztlich neurologischer Abklärungsmöglichkeiten und einer Übersicht therapeutischer Möglichkeiten.

 

Leitsymptome

Die Polyneuropathie ist eine generalisierte Erkrankung des peripheren Nervensystems. Zu diesem gehören alle motorischen, sensiblen und autonomen Nerven ausserhalb des zentralen Nervensystems mit ihren Hüllstrukturen und versorgenden Blut- und Lymphgefässen.

 

Unterschieden werden muss, und dies ist häufig bereits aufgrund der Symptome möglich, zwischen Mononeuropathien (z.B. Carpaltunnelsyndrom), radikulären Läsionen, multiplen mononeuropathischen oder radikulären Affektionen oder eben den Polyneuropathien.

 

Gemäss dieser funktionellen bzw. topischen Einteilung kommt es bei Polyneuropathien vor allem zu folgenden Symptomen (siehe Tabelle 1).

 

Tabelle 1: Hauptsächliche Beschwerden (Tabelle vergrössern: anklicken)

 
 

Für den Patienten ist es häufig schwierig, die Beschwerden zu beschreiben oder einem Organ bzw. Organsystem zuzuordnen. Das informationsverarbeitende und -leitende Nervensystem ist für ihn wenig fassbar, eher werden die Symptome als Durchblutungsstörungen, muskuläre oder gelenksabhängige Schmerzen oder auch kutane Symptome (allergisch, Schweisssekretionsstörung) interpretiert.

 

Pathophysiologie

Die Beschreibung pathophysiologischer Details der verschiedenen PNP-verursachenden Krankheiten würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen und ist für den alltägliche Praxis bzw. den weiteren Abklärungs-Ablauf kaum von Belang.

 

Für das Verständnis kann folgendes eine Hilfe sein: Die Unterscheidung der peripheren Nerven in markhaltige und marklose Fasern, die zu Nervenfaszikeln zusammengefasst sind (gemischter peripherer Nerv). Diese Faszikel enthalten Bindegewebe (Perineurium und Endoneurium) bzw. die Markscheidenbildenden Schwann-Zellen. Diese wiederum sind vor allem aus Lipiden und Proteinen aufgebaut (z.B. Ganglioside).

 

Entsprechend können sich Polyneuropathien als Myelinopathien, axonale Degenerationen oder Läsionen des interstitiellen Gewebes (Immunopathien, Amyloid- Erkrankungen) manifestieren. Es sind natürlich auch Mischformen möglich (siehe Tabelle 2).

 

Tabelle 2: Pathophysiologische Kriterien der PNP (Tabelle vergrössern: anklicken)

 
 

Einteilungsmöglichkeiten

Der Umstand, dass etwa 600 Polyneuropathie-Arten unterschieden werden, verlangt eine für den Praxis- Alltag brauchbare, gewichtete Übersicht. Dazu wären z.B. Einteilungen nach pathophysiologischen oder auch ursächlichen Kriterien möglich. Diagnostisch am ehesten richtungsweisend dürfte eine Einteilung sein, die die Kriterien Verlauf bzw. Akuität und das Verteilungsmuster der Beschwerden einschliesst.

 

Es werden dabei akute Form einer PNP (Entwicklung in den letzten 4 Wo), subakute (4-8 Wo) und chronische (über 8 Wo) unterschieden.

Bei der Verteilung wird darauf geachtet, ob die Symptome/Befunde symmetrisch, asymmetrisch, proximal, distal oder in einer Kombination dieser Lokalisationen vorkommen (siehe Tabelle 3).

 

Tabelle 3: Einteilung der Polyneuropathien nach Verteilung und Grunderkrankungen (Tabelle vergrössern: anklicken)

 
 

Die zeitliche Einteilung lässt am ehesten entscheiden, wie dringlich weitere (spezialärztliche oder stationäre) Abklärungen bzw. Behandlungen gestaltet werden sollten.

 

 Untersuchungen

Eine erste problemorientierte Anamnese und klinische Beurteilung führt häufig bereits zu einer ursächlichen Zuordnung.

Die Anamnese muss Grunderkrankungen aus internistischer Sicht (Diabetes, Nierenerkrankung, Malignome, etc.) umfassen. Wichtig ist auch eine eingehende Systemanamnese bzgl. Störungen von Blasen- oder Darmtätigkeit, sexuellen Funktionen, Schwitzverhalten (kompensatorisches Schwitzen), rheumatologischen Beschwerden, kutanen Auffälligkeiten, Medikamenten-, Drogen- und Toxin-Expositionen (Alkohol)) und Ernährungsverhalten.

 

Schliesslich kann die Familienanamnese aufschlussreich sein, wobei gezielt nach Bewegungsstörungen, progredienter Schwäche (z.B. dadurch bedingte frühzeitige Arbeitsaufgabe), aber auch Fuss- oder anderen Skelettdeformitäten etc. gefragt werden sollte.

Eine Zusammenfassung nach diesen Kriterien ist in Tabelle 3 dargestellt.

 

Zur klinischen Untersuchung gehören in erster Linie Beachtung des Reflexbildes (distale Abschwächung), motorische Störung (Parese, Verteilungsmuster), soweit möglich eine differenzierte Unterscheidung von Sensibilitätsstörungen, wobei grob zwischen «large fibre» (Berührungs-, Vibrations- und Lage-Empfindung) und «small fibre neuropathy» (Schmerz- und Temperaturempfindung) unterschieden werden kann. Speziell beachtet werden müsste eine bei speziellen PNP/Polyradikulopathie mögliche Mitbeteiligung von Hirnnerven.

 

Autonome Störungen beziehen sich hauptsächlich auf Pupillenfunktion, trophischen Hautzustand, orthostatische Probleme, kardiovaskuläre bzgl. Frequenzauffälligkeiten, gastrointestinale Probleme bzgl. unregelmässiger Darmfunktion/Stuhlgang, Cholezystopathien oder gestörte Glukoseverwertung. Wichtig ist auch eine Erfassung des Schmerzempfindens.

 

Zusatzuntersuchungen

Ein erstes Laborscreening in der hausärztlichen/ internistischen Praxis (siehe Tabelle 4) richtet sich nach den oben aufgeführten internistischen Grunderkrankungen, die mit einer Polyneuropathie assoziiert sein können und führt meist schon zu einer deutlichen Eingrenzung der Differentialdiagnose internistisch behandelbarer Polyneuropathien.

 

Tabelle 4: Laborscreening bei Polyneuropathie (Tabelle vergrössern: anklicken)

 

Spezialärztliche Abklärungen

Wenn sich bis hier hin keine (behandelbare) Ursache oder ev. kein klinischer Manifestationstyp eingrenzen lassen sollte, müsste eine fachärztlich neurologische Abklärung folgen; die Dringlichkeit davon kann sich – neben der Relevanz einer vermuteten Grunderkrankung – an der Dynamik der Beschwerde- Entwicklung orientieren.

 

Bei langsamer Beschwerde-Entwicklung oder bei Verdacht auf unkomplizierte, passagere PNP-Auslöser (Entzündungskrankheiten, begrenzte leichte Toxin-Exposition (flüchtige Stoffe, Alkohol), korrigierte Malnutrition, etc.) kann der Spontanverlauf abgewartet werden.

 

Es gibt auch einzelne ursächlich nicht klärbare Polyneuropathie- Formen, die selbst limitierend sind. Eine mindestens problemorientierte klinische oder elektrophysiologische Verlaufskontrolle ist nach 3-6 Monaten auch in diesen Fällen zu empfehlen. Dies, da Beschwerdeentwicklung und klinischer Eindruck gelegentlich nicht parallel zum Nervenschädigungs- Verlauf gehen.

 

Bei unklarer Zuordnung der PNP-Beschwerden, natürlich bei akuten Formen, bei Progredienz funktionell einschränkender Symptome oder bei ungenügendem Effekt symptomatischer Behandlungen ist eine Weiterweisung an den praktizierenden Neurologen oder eine Neurologische Klinik zu empfehlen.

 

Dabei wird neben erneuter zielgerichteter Anamnese und klinischer Befunderhebung in erster Linie elektrodiagnostisch weiter abgeklärt; allenfalls erfolgen weitergehende Laboruntersuchungen, ev. inkl. Liquor-Punktion. Bei weiterhin unklaren Fällen besteht auch die Möglichkeit einer Nerven- bzw. Nerven- Muskel-Biopsie und genetischer Abklärungen.

 

Elektrodiagnostik

Die Elektro-Neurographie (ENG) und Elektro-Myographie (EMG) lassen das Verteilungsmuster (siehe oben) und die Art der Nervenschädigung festlegen. Es geht dabei hauptsächlich um die Unterscheidung der oben bereits erwähnten axonalen und demyelinisierenden Nervenschädigungen, um die Quantifizierung davon und wieder um das Verteilungsmuster.

 

Die Elektro-Myographie (Nadel-Untersuchung des Muskels) gibt direkte Information über die Muskelfunktion bei axonaler Nervenschädigung. Verschiedene, technisch relativ einfache sogenannte Übersichts- EMGs helfen bei der Festlegung des Verteilungsmusters. Neben genauerer ätiologischer Zuordnung können damit aber auch zusätzliche zur Polyneuropathie bestehende fokale Neuropathien abgegrenzt und gezielt behandelt werden (z.B. Carpaltunnel- Syndrom, Peronaeus-Druckneuropathie, Radikulopathien).

 

Weitere spezielle Zusatz-Untersuchungen

ENG und EMG können durch weitere, seltener notwendige Untersuchungsmethoden ergänzt werden. Darunter fallen Vibratometrie, Thermotest, Bestimmung der Herzfrequenz-Variabilität, Valsalva-Manöver, Kipptisch-Untersuchung, Messung der sympathischen Hautantwort.

 

Die Liquor-Diagnostik hat vor allem Bedeutung bei entzündlichen PNP (sowohl bei akuten, wie dem Guillain-Barré-Syndrom [zytoalbuminäre Dissoziation], als auch chronischen Formen wie CIDP), bei Borreliose-Verdacht oder bei Malignomen.

 

Eine Nervenbiopsie oder eine kombinierte Nerven- Muskel-Biopsie kann dann indiziert sein, wenn eine schwere oder progrediente Polyneuropathie mit obigen Massnahmen ursächlich nicht geklärt werden konnte. Dabei stehen die DD von Vaskulitiden bzw. anderen interstitiellen Neuropathien im Vordergrund (siehe Tabelle 5).

 

Tabelle 5: Indikation für Nerven- kombinierte Nerven-Muskel-Biopsie (Tabelle vergrössern: anklicken)

 
 

 

Die erweiterte Differenzialdiagnose im Rahmen spezialärztlicher Abklärungen ist in Tabelle 6 zusammengefasst.

 

Tabelle 6: Erweiterte Differenzialdiagnose der Polyneuropathie (Tabelle vergrössern: anklicken)

 
 

 

Zunehmende Bedeutung erlangt die genetische Untersuchung zur genaueren Differenzierung der hereditären Polyneuropathien (z.B. Typ Charcot- Marie-Tooth).

 

Trotz dieser diversen Einteilungsversuche und Abklärungsmöglichkeiten bleiben etwa 20% der Polyneuropathien ursächlich ungeklärt.

 

Therapie der Polyneuropathie

Es muss grundsätzlich unterschieden werden zwischen einer symptomatischen und einer, soweit möglich, ursächlichen Behandlung der Polyneuropathie.

 

Symptomatische Behandlung

Häufigste behandlungsbedürftige Symptome sind Parästhesien bzw. Schmerzen. Bei letzteren kann unterschieden werden zwischen protopatischen Schmerzen (dumpf, diffus, brennend) und epikritischen (spitz, stechend); diese Formen können sich überschneiden.

 

Bei den protopathischen stehen zur Behandlung eher trizyklische Antidepressiva im Vordergrund (Amitriptylin, Nortriptylin), bei den epikritischen eher Antiepileptika (Gabapentin, Pregabalin, Oxcarbazepin). Auch hier sind Kombinationen der beiden Medikamententypen denkbar bzw. können synergistisch wirken.

 

Bei intensiven Schmerzen können systemisch Opiate (Fentanyl) helfen oder lokal Salben wie z.B. Capsaicin. Wichtig bei akuten als auch bei chronisch verlaufenden PNP sind physikalische Massnahmen.

 

Ursächliche Behandlungen

Da handelt es sich meistens um internistisch geführte Therapien, die hier nicht ausreichend dargestellt werden können.

 

Als wichtige oder exemplarische Gruppen zu erwähnen sind akute Neuropathien wie das Guillain-Barré- Syndrom (GBS) oder bei den chronischen Formen die chronisch entzündliche demyelinisierende Neuropathie (CIDP).

Im wesentlichen handelt es sich um entzündungshemmende Therapien (hochdosierte Kortisonbehandlung) unter immunsupprimierender/-modulierender Behandlung (Plasmaparese, hochdosierte Immunglobulingabe). Kombination, Dosis und Dauer dieser Therapien hängen vom Krankheitsbild und der Ausprägung ab bzw. müssen sehr individuell angepasst werden.

 

Auch bei diesen Polyneuropathien können zusätzlich sehr unterschiedliche symptomatische Behandlungen von Begleitsymptomen (z.B. Schmerzen, Dysautonomien, internistische Folgesymptome mit z. T. intensivmedizinischem Therapie-Bedarf) nötig sein.

 

Bei den chronisch verlaufenden Polyneuropathien gewinnen im Verlauf physikalische Massnahmen und orthopädische/Orthopädie-Technische Mittel an Bedeutung.

 

Dr. med. Peter Christian Wyss, Facharzt FMH für Neurologie, Winterthur

 

Referenzen

Bitte beim Autor einholen.



 
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