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Belastungsinkontinenz der Frau – Diagnostik und Therapie

Einführung

Jede dritte Frau (23-44%) ist von der Harninkontinenz betroffen [1,2]. Als Hauptrisikofaktoren gelten Schwangerschaften, Geburten und zunehmendes Alter. So steigt die Prävalenz von 10% bei den 20 bis 24-jährigen Frauen auf 40% bei den über 90-jährigen (siehe Abbildung 1). Prämenopausale Patientinnen sind vorwiegend von der Belastungsinkontinenz, postmenopausale Patientinnen von der überaktiven Blase betroffen (siehe Abbildung 2). Altersabhängig findet sich die reine Belastungsinkontinenz bei 4.8% bis 18.2% aller erwachsenen Frauen.

 

Häufigkeit und Schwere der Inkontinenzepisoden, die nötige Anwendung von Inkontinenzhilfen sowie ein beeinträchtigtes Sexualleben sind die Hauptfaktoren für die verminderte Lebensqualität [3]. Bei zwei Drittel der Patientinnen sind die sozialen und sexuellen Beziehungen sowie das Selbstwertgefühl belastet. Die finanzielle Bürde durch ärztliche Untersuchungen, Medikamente, physiotherapeutische Inkontinenztherapie, Chirurgie, Inkontinenzhilfen, Inkontinenzbinden, Wäsche, Hygieneartikel, neue Kleidung, Reinigungskosten für Teppiche oder Möbel, Katheter oder Folgekosten durch Haut- oder Harnwegsinfekte wurde in den USA für das Jahr 2000 auf 32.1 Milliarden US$ geschätzt [4]. Für die Schweiz finden sich keine publizierten Zahlen. Bei 3 saugstarken Inkontinenzbinden täglich beliefen sich die geschätzten Kosten pro Patientin auf 700 SFr. jährlich. Doch nur etwa 30% der betroffenen Frauen suchen ärztliche Hilfe [2].

 

Den betroffenen Frauen können heute erfolgreiche Therapien angeboten werden, sofern die häufig tabuisierte Thematik angesprochen wird. Zur Behandlung der Belastungsinkontinenz haben Ulmsten und Petros 1995 das «tension-free vaginal tape» (kurz «TVT») als neue Schlingenoperation eingeführt und damit die Inkontinenztherapie der Frau revolutioniert. Auf dem Boden ausgedehnter anatomischer und urodynamischer Voruntersuchungen (Integraltheorie) entwickelten sie die Technik der spannungsfreien Vaginalschlinge. Im Unterschied zur Kolposuspension ist das Ziel des TVTs eine Stabilisierung der mittleren Urethra, nicht eine Reposition des Blasenhalses. Durch das nicht resorbierbare Kunststoffband wird die Verstärkung der geschwächten pubourethralen Verankerung des mittleren Urethradrittels angestrebt. Das Band soll demnach weder eine Elevation noch Obstruktion bewirken, sondern lediglich als Matrix für eine Neufixation der Urethra durch Einsprossung von Fibroblasten dienen.

 

Definition

Die International Continence Society definiert in ihren 2002 erschienen Empfehlungen zur „standardisation of terminology“ die Harninkontinenz als unfreiwilligen Harnverlust, der ein soziales oder hygienisches Problem darstellt. Die Belastungsinkontinenz stellt Beschwerden im Sinne von unwillkürlichem Harnverlust bei Anstrengung oder Strapazen, bei Niesen oder Husten dar.

 

Basisabklärung

Zur Erstevaluation wird die Patientin mit voller Blase einbestellt.

Anamnese

Die Patientin beschreibt typischerweise einen Urinverlust beim Husten, Niesen, Lachen (Grad I), Heben von schweren Lasten, Treppensteigen, Gehen (Grad II) oder im Stehen (Grad III, Einteilung nach Ingelman-Sundberg). Häufiger Harndrang (frequency), Nykturie oder imperativer Harndrang mit oder ohne ungewolltem Urinabgang weisen auf eine überaktive Blase hin. Ein vaginales Vorfall- oder Fremdkörpergefühl kann auf eine Deszensusproblematik deuten. Gezielt soll nach neurologischen Störungen, Diabetes, Medikamenteneinnahme und urogynäkologischen Voroperationen gefragt werden. Menopausenstatus und Parität werden ebenso erfasst. Hilfreich für die Erhebung der Anamnese ist ein Inkontinenzfragebogen. Die Lebensqualität kann mit einem speziellen Fragebogen (z.B. King's Health Questionnaire) erfasst werden. Hinweise auf eine überaktive Blase ergeben sich aus dem Miktionsprotokoll, das über mehrere Tage geführt werden soll.

 

Gynäkologische Untersuchung

Bei der gynäkologischen Untersuchung werden die Trophik des Genitale, ein Deszensus (Zysto- oder Rektozele, Deszensus uteri) in Ruhe und Pressen festgehalten. Zum Ausschluss einer therapiebedürftigen Infektion werden ein Nativpräparat des Vaginalsekretes angefertigt sowie Abstriche aus Urethra und Zervikalkanal entnommen. Durch die bimanuelle Untersuchung wird die Kontraktilität, Ausdauer und Koordination der Beckenbodenmuskulatur beurteilt (Beckenbodentesting).

 

Nun wird die Patientin aufgefordert zu husten. Ein belastungssynchroner Urinabgang weist auf eine Belastungsinkontinenz hin (positiver Hustentest). Bei Genitaldeszensus und negativem Hustentest wird dieser nach Reposition wiederholt (Repositionstest). Bei positivem Testergebnis liegt eine larvierte Belastungsinkontinenz (Quetschhahnmechanismus) vor. Im Anschluss an die Untersuchung wird nach erfolgter Spontanmiktion der Restharn mittels Einmalkatheterisierung oder sonographisch nach der Elipsoidformel bestimmt, um erhöhte Restharnmengen (über 50 mL oder über 15% der Blasenkapazität) oder eine chronische Restharnbildung auszuschliessen. Ein florider Harnwegsinfekt wird mittels Urinuntersuchung ausgeschlossen respektive antibiotisch behandelt.

 

Konservative Therapie

Zunächst kann und soll bei der Belastungsinkontinenz die konservative Therapie angestrebt werden. Bei atrophem Genitale empfiehlt sich die lokale Anwendung von Östrogenen. Sofern nicht schon durchgeführt, motivieren wir die Patientin für eine physiotherapeutische Inkontinenztherapie mit Biofeedback und ggf. Elektrostimulation. Bewährt haben sich auch Ringpessare und Inkontinenztampons.

 

Bei gemischter Inkontinenz kann die überaktive Blase mittels Blasentraining angegangen werden. Dabei wird die Patientin angeleitet, die Miktionsportion auf 300 mL zu erhöhen und die Miktionsfrequenz auf maximal 8 Miktionen täglich zu reduzieren. Unterstützend können Anticholinergika verordnet werden.

 

Bisher spielte die medikamentöse Therapie der Belastungsinkontinenz eine untergeordnete Rolle. Erstmalig wurde an über 200 Patientinnen ein neues Medikament geprüft, welches in der EU bereits erhältlich ist und in der Schweiz demnächst eingeführt werden wird. Eine signifikante Reduktion der Inkontinenzepisoden bei gleichzeitiger Steigerung der Lebensqualität konnte gezeigt werden [5].

 

Urogynäkologische Untersuchung mit Urodynamik

Bei Belastungsinkontinenz oder überaktiver Blase, die auf konservative Massnahmen nicht anspricht, bei ausgeprägtem Genitaldeszensus, insbesondere Zystozele, bei Verdacht auf eine larvierte Inkontinenz, bei erhöhter Restharnmenge, rezidivierenden Harnwegsinfekten, bei Verdacht auf eine neurogene Blasenstörung, zur Abklärung vor urogynäkologischen Operationen sowie bei jeder unklaren Blasenstörung veranlassen wir die erweiterte urogynäkologische Untersuchung mit Urodynamik.

 

Kernstück der urodynamischen Abklärung ist die Zystotonometrie der Füllungsphase. Dabei wird der Blasendruck in Abhängigkeit von der Blasenfüllung gemessen. Ein früher erster Harndrang unter 150 mL, eine verminderte Blasenkapazität unter 350 mL oder unwillkürliche pathologische Detrusorkontraktionen während der Füllungsphase weisen auf eine überaktive Blase hin. Zudem kann der Urethralruheverschlussdruck gemessen werden (Urethrometrie). Bei einem tiefen maximalen Urethralruheverschlussdruck (hypotone Urethra) ist ein schlechteres postoperatives Outcome zu erwarten. Zum Ausschluss eines infravesikalen Hindernisses wird die Uroflowmetrie durchgeführt. Dabei werden Geschwindigkeit und Menge des Urinflusses während der Miktion

gemessen. Die Perinealsonographie dient der sonomorphologischen Beurteilung von Urethra und Harnblase (Mobilität der Urethra, Auftreten eines Blasenhalstrichters, Ausprägung von Zystozelen und Deszensus). Die Zystoskopie wird zum Ausschluss intravesikaler Pathologien durchgeführt.

 

Chirurgische Therapie

Bei fehlendem Ansprechen auf die konservativen Massnahmen kann die operative Behandlung indiziert sein. Hier hat sich die TVT-Einlage, eine minimal invasive Schlingenoperation, als Standard durchgesetzt. Der grosse Vorteil der Originalmethode ist die mögliche Durchführung der TVT-Operation in Lokalanästhesie, welche eine Kooperation der Patientin bei der endgültigen Platzierung des Bandes zur Vermeidung von Überkorrekturen erlaubt. Mit Hilfe eines Führungsinstrumentes wird das TVT-Band beidseits der Harnröhre von vaginal retrosymphysär hochgeführt und unter der mittleren Harnröhre platziert. Während die Patientin wiederholt hustet, wird das Band angezogen, bis fast kein Urin mehr abgeht. Dabei soll auf eine «spannungsfreie» Lage des Bandes geachtet werden. Die TVT-Technik ist eine sichere und komplikationsarme Inkontinenzoperation mit 5-Jahres-Erfolgsraten von 85 bis 95% [6], wobei die Chancen für ein kontinentes Resultat bei älteren Patientinnen oder Patientinnen mit hypotoner Urethra tiefer ausfallen. Die ursprüngliche Indikationsstellung bei der hypermobilen oder hypotonen Urethra wurde mittlerweile auch auf die gemischte Inkontinenz ausgeweitet. Die Schlingentechniken können mit der Hysterektomie oder Deszensuschirurgie kombiniert werden. Mittlerweile sind mehrere Schlingensysteme auf dem Markt. Neben der retrosymphysären Einlagetechnik gibt es die sogenannte Transobturator-Technik, bei der das Band nicht hinter der Symphyse hochgeführt, sondern seitlich durch das Foramen obturatum eingeführt wird. Dadurch soll – bei gleicher Erfolgsrate – die Komplikationsrate (insbesondere Blasenperforation) geringer als bei der TVT-Technik ausfallen [7]. Für den Operationserfolg ist aus unserer Erfahrung weniger die Schlingentechnik als die Erfahrung des Operateurs mit einer bestimmten Technik wichtig. Bei einer wenig bis immobilen und hypotonen Urethra kann die intraurethrale Injektion eines sogenannten «bulking agents» versucht werden.

 

 

Dr. med. David Scheiner, Oberarzt, PD Dr. med. Daniele Perucchini, Oberarzt, Klinik für Gynäkologie, UniversitätsSpital Zürich


Literatur
1. Hannestad YS, Rortveit G, Sandvik H, Hunskaar S. A community-based epidemiological survey of female urinary incontinence: the Norwegian EPINCONT study. Epidemiology of Incontinence in the County of Nord-Trondelag. J Clin Epidemiol 2000; 53:1150-7.
2. Hunskaar S, Lose G, Sykes D, Voss S. The prevalence of urinary incontinence in women in four European countries. BJU Int 2004; 93:324-30.
3. Temml C, Brossner C, Schatzl G, Ponholzer A, Knoepp L, Madersbacher S. The natural history of lower urinary tract symptoms over five years. Eur Urol 2003; 43:374-80.
4. Hu TW, Wagner TH, Bentkover JD, Leblanc K, Zhou SZ, Hunt T. Costs of urinary incontinence and overactive bladder in the United States: a comparative study. Urology 2004; 63:461-5.
5. Van Kerrebroeck P. Duloxetine: an innovative approach for treating stress urinary incontinence. BJU Int 2004; 94 Suppl 1:31-7.
6. Nilsson CG, Kuuva N, Falconer C, Rezapour M, Ulmsten U. Long-term results of the tension-free vaginal tape (TVT) procedure for surgical treatment of female stress urinary incontinence. Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct 2001; 12 Suppl 2:S5-8.
7. de Tayrac R. [Cystocele repair by vaginal approach. Tension-free transversal polypropylene subvesical prosthesis. Technique and results. Gynecol. Obstet. Fertil. 2004; 32: 280-284]. Gynecol Obstet Fertil 2004; 32:834.

 

 
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06.06.2005 - dde
 



 
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