Zweiklassenmedizin: Was ist daran anstössig?
Der Begriff ''Zweiklassenmedizin'' ist eine Alarmglocke, die man für alle möglichen Zwecke läuten kann. Er vernebelt mehr als er erleuchtet. Was macht ihn so virulent?
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B. Rom |
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Immer wieder wird vor einer Zweiklassenmedizin gewarnt. Es gilt als ausgemacht, dass eine solche Zweiklassenmedizin moralisch verwerflich sei und deshalb in einer gerechten Gesellschaft nicht tolerabel. Warum eigentlich? Wir finden die zwei Klassen der SBB durchaus in Ordnung und leben auch mit fünf Klassen von Hotels ohne Skrupel.
Anstatt sich vom Schreckensgespenst «Zweiklassenmedizin» einschüchtern zu lassen, sollen hier einige Überlegungen zu Gerechtigkeit im Gesundheitswesen angestellt werden. Norman Daniels, Professor für Ethik und Bevölkerung, meint, wer sich mit Gerechtigkeit im Gesundheitswesen befasst, müsse sich vornehmlich mit folgenden drei Fragen auseinandersetzen:
- 1. Ist medizinische Versorgung ein besonderes Gut?
- 2. Wann sind Ungleichheiten der medizinischen Versorgung ungerecht?
- 3. Wie können unterschiedliche medizinische Bedürfnisse befriedigt werden, wenn die Mittel knapp sind?
Medizinische Versorgung als ein besonderes Gut
Nicht jede ungleiche Verteilung von Gütern gilt als ungerecht. Bei der medizinischen Grundversorgung empfinden wir eine ungleiche Verteilung als ungerecht, weil wir Gesundheit als einen besonderen Wert erachten.
Medizinische Versorgung ist ein besonderes Gut, weil sie ein normales Funktionieren eines Menschen ermöglicht. Nur ein gesunder Mensch hat die Chance, als gleichberechtigter autonomer Bürger zu wirken. Medizinische Versorgung gehört zu den eigentlichen Grundbedürfnissen (basic needs) wie Wohnung, Nahrung, genügend Ruhezeit. Das Spezielle an der medizinischen Versorgung ist, dass die Ungleichheit in der Verteilung wesentlich grösser ist als bei den genannten Gütern. Medizinische Versorgung wird aber immer teurer, so dass Beschränkungen aus finanziellen Gründen notwendig sind.
Was es alles an medizinischen Leistungen braucht, um Chancengleichheit zu erreichen, muss Gegenstand von Verhandlungen sein. Auch muss ausgehandelt werden, was ein Gesundheitswesen kosten darf, denn das Gesundheitswesen ist nicht das einzige Gut, das für ein normales Funktionieren eines Menschen wichtig ist. Ein gutes Schulwesen zum Beispiel gehört auch in diese Kategorie von Gütern.
Welche Unterschiede im Gesundheitszustand sind ungerecht?
Unser Gesundheitszustand wird nicht nur durch den Zugang zum Gesundheitswesen bestimmt. So ist zum Beispiel bekannt, dass der soziale Status und die Stellung innerhalb einer beruflichen Hierarchie entscheidend für den Gesundheitszustand eines Menschen ist. Es ist deshalb wichtig, dass wir nicht nur ärztliche Leistungen berücksichtigen, wenn es um Gerechtigkeit bezüglich Gesundheit geht. Es ist bekannt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem Wohlstand eines Landes und dem Gesundheitszustand der Bevölkerung - gemessen zum Beispiel an der Lebenserwartung der Einwohner - besteht. Aber es existieren auch bemerkenswerte andere Einflüsse. So hat das mausarme Kerala eine wesentlich gesündere Bevölkerung als die übrigen Gliedstaaten Indiens. Der Grund könnte sein, dass dieser Staat sehr viel mehr Geld ins Erziehungswesen investiert, insbesondere für die Alphabetisierung der weiblichen Bevölkerung. Es gibt sehr viele Studien, die zeigen, dass Länder, die viele Mittel ins Erziehungswesen investieren, einen besseren Gesundheitszustand der Bevölkerung aufweisen.
Wie können unterschiedliche medizinische Bedürfnisse befriedigt werden, wenn die Mittel knapp sind?
Auch in den reichsten Ländern der Welt sind die Mittel für das Gesundheitswesen beschränkt, und die Frage stellt sich: Wann sind Rationierungsmassnahmen gerechtfertigt? Es geht also um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Wie werden die Güter dieses Planeten gerecht verteilt? Leider gibt es keinen Konsens darüber, schon gar nicht im Gesundheitswesen. Wer soll bei knappen Ressourcen berücksichtigt werden? In der Transplantationsmedizin zum Beispiel sind Organe knapp. Wer soll das Organ bekommen? Derjenige, der am es am nötigsten hat? Derjenige, bei dem der Nutzen am grössten ist? Derjenige, der am meisten Verdienste hat? Oder soll das Los entscheiden?
Da kein Konsens besteht, muss in einem öffentlichen Diskurs ausgehandelt werden, nach welchen Prinzipien knappe Güter verteilt werden sollen. Dabei soll vermehrt mit vernünftigen Argumenten und nicht mit rhetorischen Hieben vorgegangen werden. Wenn wieder einmal argumentiert wird, unserem Land drohe eine Zweiklassenmedizin, werde ich antworten «Was ist denn so schlimm daran?»
Dr. med. Bernhard Rom, MAE, General-Werdmüllerstr. 49, 8804 Au ZH
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23.11.2007 - dde